Rechtliche Abstammung auch bei Inzest?
22.08.2022Der Verfassungsgerichtshof hat gesprochen. Auch Kinder aus einer Inzestbeziehung haben das Recht auf ein doppeltes Abstammungverhältnis, sodass im Prinzip beide Elternteile in der Geburtsurkunde stehen bleiben dürfen, selbst wenn im Nachhinein festgestellt wird, dass das Kind aus einer inzestuösen Beziehung stammt.
Im vorliegenden Fall war der Vater in die Geburtsurkunde seiner Kinder eingetragen worden, nachdem er ein Vaterschaftsanerkenntnis abgelegt hatte. Erst Jahre später, als die Eltern beschlossen zu heiraten, war aufgefallen, dass sie dieselbe Mutter haben. Zwischen Halbbruder und Halbschwester besteht jedoch laut Zivilgesetzbuch ein absolutes Ehehindernis. Die Vaterschaft hätte eigentlich nie eingetragen werden dürfen. Aus diesem Grund forderte die Staatsanwaltschaft die Aufhebung der Vaterschaftsanerkennung und den Namenswechsel des Kindes.
Das Familiengericht befasste den Verfassungsgerichtshof daraufhin mit folgender Vorfrage: Verstößt unser Zivilgesetzbuch nicht gegen die Verfassung, wenn es einem Kind, welches aus einer inzestuösen Beziehung stammt, das Recht vorenthält, die väterliche Abstammung rechtlich herstellen zu lassen? Ist diese Gesetzgebung überhaupt mit dem Gleichheitsprinzip und dem Diskriminierungsverbot (*) vereinbar? Aus rechtlicher Sicht hätten diese Kinder immer nur ein einziges Elternteil.
Der Gesetzgeber hat diese Regelung ursprünglich vorgesehen, weil er davon ausging, dass eine solche Anerkennung selten dem Interesse des Kindes dient.
Der Verfassungsgerichtshof zeigte sich weitaus differenzierter und schlussfolgerte, dass eine Anerkennung nicht immer dem Kindeswohl zuwiderlaufen muss, insbesondere wenn das Kind und sein Umfeld Kenntnis von den Umständen der Geburt haben. In diesem Fall können die Vorteile für das Kind, insbesondere der Lebensunterhalt, der sich aus einer doppelten Abstammung ergibt, die Nachteile, nämlich die Aufdeckung des inzestuösen Charakters der Beziehung zwischen den Eltern, überwiegen. In einem solchen Fall würde das grundsätzliche Recht auf eine doppelte Abstammung unverhältnismäßig beeinträchtigt. Der Gerichtshof war der Ansicht, dass diese Beeinträchtigung nicht durch das Ziel, inzestuöse Beziehungen zwischen Eltern zu verbieten, gerechtfertigt werden kann, denn eine nachträgliche Aufhebung der Vaterschaft kann keine Situation mehr verhindern, die de facto bereits eingetreten ist.
Der Gerichtshof kam daher zu dem Schluss, dass diese gesetzliche Bestimmung (**) nicht verfassungskonform ist, wenn sie den Richter daran hindert, einen Antrag auf Aufhebung der Vaterschaftsanerkennung abzulehnen, obwohl er der Ansicht ist, dass die Beibehaltung der doppelten Abstammung im Interesse des Kindes ist (***).
(*) Arikel 10 und 11 der Verfassung; Artikel 8 und 14 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK); Artikel 3.1 und 7.1. des New Yorker Übereinkommens über die Rechte des Kindes
(**) Artikel 321 des alten Zivilgesetzbuches
(***) Entscheid des Verfassungsgerichtshofes Nr. 99/2022 vom 14. Juli 2022